Von Menschenwürde und Prügelknaben

DNN 19. 7. Dresden – S. 17

Von Menschenwürde und Prügelknaben

Von Geert Mackenroth

Heute: Warum Asylsuchende auch nach vielen Jahren in Deutschland abgeschoben werden.

Ein Landesbischof sieht „grundlegende Aspekte der Menschenwürde“ verletzt, ein Mitglied des Sächsischen Landtags erkennt einen Skandal, bezeichnet die deutsche Asylpolitik und das geltende Recht als inhuman, eine Landtagsabgeordnete einer anderen Fraktion fordert den Rücktritt des Innenministers, und die Fraktionsvorsitzende einer Regierungspartei will undifferenziert allen Menschen, die arbeiten oder zur Schule gehen, einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland ermöglichen.

Einige Abschiebefälle der letzten Zeit, bei denen Kinder und allem Anschein nach gut integrierte Menschen aus Georgien nach teils langjährigem Aufenthalt in Sachsen betroffen waren, haben im Freistaat eine gesellschaftliche Debatte entfacht, die näher zu betrachten sich lohnt. Die Fundamentalkritik am Einzelfall vermischt – ob bewusst oder aus Unkenntnis, sei dahingestellt – die Frage, wer wann unser Land verlassen muss, mit der Frage, wie die konkrete Rückführung durchgeführt wird.

Zur ersten Frage: Der Zielkonflikt zwischen begonnener Integration auf der einen und der notwendigen Durchsetzung des Rechts, das „ob“ einer Abschiebung, trifft allein abgelehnte Asylbewerber. Asylbewerber, deren Antrag noch nicht bestandskräftig abgelehnt ist, haben eine Gestattung, dürfen also bis zum Abschluss ihrer Verfahren bleiben, Flüchtlinge einen Aufenthaltstitel.

Abgelehnte Asylbewerber sind ausreisepflichtig, erhalten nur in Ausnahmefällen eine Aufenthaltserlaubnis. Unser Aufenthalts- und Asylrecht hat per Grundentscheidung das vielfach geforderte „Bleiberecht für alle“ abgelehnt und sich für das Prinzip der gesteuerten Zuwanderung entschieden. Das deutsche Recht folgt dabei völker- und europarechtlichen Vorgaben, ist großzügiger als in den meisten anderen Staaten und beachtet selbstverständlich durchweg die Menschenwürde. Offensichtlich aussichtslose Asylantragstellung aber – insbesondere Migration aus wirtschaftlichen Gründen über den Weg des Asylverfahrens – soll vermieden werden.

Um nicht nachvollziehbare Entscheidungen zu vermeiden und das Recht durchzusetzen, bedarf es ei­ner zügigen Bearbeitung der Asylverfahren. Zuständig dafür ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dessen Entscheidungen durch die Gerichte überprüft werden können. Diese Grundentscheidungen fallen mithin nicht in die Verantwortung des Freistaates.

Bei Georgien liegt die Anerkennungsquote im Asylverfahren unter einem Prozent, Verfahren sind regelmäßig aussichtslos, die Betroffenen sollten sich und ihren Kindern schon den Versuch ersparen. Wieso dauert es dann aber – im Beispiel unserer georgischen Familie aus Pirna – rund zehn Jahre, bis es zur Abschiebung kommt? Wieso kann in dieser Zeit die Familie um zahlreiche hier geborene Kinder wachsen, die hier zur Kita, in die Schule gehen, fließend Deutsch sprechen und integriert sind?

Weil alle Verfahren und Instanzen durchlaufen werden, fast alle nur möglichen Anträge gestellt werden, alles rechtsstaatlich sauber geprüft werden muss und die Bearbeitung und die gerichtlichen Überprüfungen eben dauern. Die höchst wünschenswerte schnellere Bearbeitung könnte durch die Einstufung Georgiens als sicheres Herkunftsland erreicht werden, Art. 16 a GG. Dazu zählt unser Gesetz Länder, in denen keine staatliche Verfolgung stattfindet, Staaten der Europäischen Union, Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien und Montenegro.

Asylanträge von Menschen aus diesen sicheren Herkunftsländern können – nicht: müssen! – in beschleunigten Verfahren mit stark verkürzten Rechtsschutzmöglichkeiten als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden. Ein solcher Asylantrag kann nur positiv beschieden werden, wenn der Antragsteller nachweist, dass er politisch verfolgt wird.

Eine schlechte wirtschaftliche Lage im Herkunftsland, Hoffnung auf ein besseres Leben, Krankheit oder der Wunsch nach einem guten Bildungssystem rechtfertigen, so verständlich diese Gründe im Einzelfall auch sein mögen, kein Asyl. Gelingt dieser Nachweis der staatlichen Verfolgung nicht, setzt die Ausreisepflicht regelmäßig in wenigen Monaten ein, nimmt den Menschen damit die Illusion, sie könnten dauerhaft in Deutschland bleiben, verhindert eine sich verstärkende Bindung an das Gastland. Das ist vom Gesetz genau so beabsichtigt und gilt unabhängig von dem Stand der jeweiligen Integration, unabhängig vom Schulbesuch oder von Freundschaften, von Sprachkenntnissen oder sozialem Engagement.

Georgien ist nicht als sicheres Herkunftsland qualifiziert, weil die Grünen seit 2015 durch ihr vehementes Veto im Bundesrat verhindern, dass Georgien (und andere Staaten ohne staatliche Verfolgung) dazu erklärt werden. Wenn jetzt ein Mitglied dieser Partei die lange Dauer des Verfahrens beklagt, so irritiert mich dies dann doch deutlich. Ebenso, wenn Sozialdemokraten das Asylrecht, für das sie seit Jahren im Bund mit verantwortlich sind, als inhuman und der Menschenwürde widersprechend bezeichnen und wenn andere zum offenen Widerstand gegen das geltende Recht aufrufen. Wenn wir nicht in Wahlkampfzeiten wären, könnte man meinen, hier würden die parteipolitischen Mitbewerber zu sächsischen Prügelknaben gemacht. Und spätestens, wenn zum Gesetzesungehorsam aufgerufen wird, hört für mich der rechtsstaatliche Spaß auf.

Nein, grundsätzlich müssen die Betroffenen auch im Beispielsfall unser Land verlassen. Aber kein Grundsatz ohne Ausnahmen, ohne rechtsstaatliche Plausibilitäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der Gesetzgeber hat festgelegt: Gut integrierten Familien, Einzelpersonen, Kindern und Jugendlichen kann aufgrund der fortschreitenden Aufenthaltsperspektive unter bestimmten Voraussetzungen wegen der Entwurzelung im Herkunftsland der Aufenthalt im gesamtgesellschaftlichen Interesse ermöglicht werden – als Ausnahme.

Das Bleiberecht knüpft an die Aufenthaltsdauer und Integration in dieser Zeit an: Kenntnis der deutschen Sprache, Schulbesuch, Ausbildung, Arbeit, Sicherung des Lebensunterhalts, keine Straftaten, die Betroffenen müssen an ihrer Identitätsklärung und Passbeschaffung mitwirken, und eine selbst herbeigeführte Verlängerung des Aufenthalts rechtfertigt kein Bleiberecht. Wenn diese Voraussetzungen aber nicht vorliegen (oder die Anträge nicht beziehungsweise nicht rechtzeitig gestellt werden), sind die Betroffenen vollziehbar ausreisepflichtig und müssen Deutschland verlassen. Das teilweise bewundernswerte Engagement der Unterstützerszene kennt allerdings nur die eine, die helle Seite der Medaille. Die den Entscheidungen zugrundeliegenden zusätzlichen Erkenntnisse sind aus Gründen des Datenschutzes für die öffentliche Debatte gesperrt. Vorschnell von strukturierter Behördenwillkür zu sprechen verbietet sich schon von daher.

Noch einmal: Die Entscheidung treffen – wie auch im Fall der Familie in Pirna – die zuständigen Ämter, deren Entscheidungen durch die Gerichte überprüft werden können. Diese Entscheidung treffen weder die Nachbarn noch der Stammtisch, sie hängt nicht von der Anzahl der Unterstützer, der Parteizugehörigkeit der Fürsprecher, der Religion der Betroffenen, dem Berufsstand oder der hervorgehobenen Amtsfunktion der Unterstützer ab, sondern folgt dem Bundesgesetz. Dies gilt auch für die Frage, ob, wann und unter welchen Umständen Betroffene wieder nach Deutschland zurückkehren dürfen.

Kommen die Menschen der Pflicht zur Ausreise nicht freiwillig nach, muss die Ausreisepflicht mit Zwang im Wege der Abschiebung durchgesetzt werden. Dies ist für die Betroffenen nicht selten eine existenzielle Erfahrung, aber auch für die lediglich in Amtshilfe tätigen Polizeibeamten eine schwierige Situation – sie haben zu den Hintergründen keine Erkenntnisse.

Die Konsequenz der Abschiebung ist den Betroffenen und Unterstützern bekannt, sie werden im Laufe des Verfahrens immer wieder darauf hingewiesen und treffen die Entscheidung, wie sie damit umgehen, ob sie trotz des bestehenden Risikos möglicherweise warten und hoffen, dass die Zeiten nach den Bleiberechtsparagrafen erfüllt werden, ein Härtefallantrag eingereicht wird oder sich die Rechtslage auf Bundesebene ändert.

Von diesen auf geltendem Recht beruhenden, unverzichtbaren Regeln zu unterscheiden ist die zweite Frage: Wenn abgeschoben werden muss, wie hat dies zu geschehen? Auch dieses staatliche Handeln folgt festen Normen, hat selbstverständlich die Menschenwürde der Betroffenen zu achten und humanitäres Augenmaß zu wahren. Das Vorgehen der Behörden kann durch unabhängige Gerichte überprüft werden, an deren Entscheidungen sich alle zu halten haben. In unserem Fall laufen entsprechende Prüfverfahren, deren Ergebnis abzuwarten ist. Trotzdem findet die Auffassung im Gesetz keine Stütze, dass eine Abschiebung von Kindern generell ein Verstoß gegen geltendes Recht oder gar die Menschenwürde wäre, dass die Ausübung von Zwang zur Nachtzeit, wenn dies denn zur Sicherung der Abschiebung unverzichtbar ist, absolut un­tersagt wäre.

Dennoch wäre es wünschenswert, wenn nunmehr zeitnah ein sächsischer Leitfaden zur Rückführungspraxis Klarheit schaffen würde. Jede belastende Maßnahme darf nur unter Wahrung der Rechte der Betroffenen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vollzogen werden, die Rechte aller Betroffenen, nicht nur von Kindern sind zu beachten. Familientrennungen und Nachtabschiebungen sollten, wenn möglich, vermieden werden. Die Abschiebung stellt für die Betroffenen einen existenziellen Einschnitt dar, diesem Umstand ist in der Art und Weise der Vorbereitung, durch Hinzuziehung geeigneten Personals, in der Umsetzung und der Abstimmung mit den Herkunftsländern im Interesse der Vermeidung von Traumatisierungen Rechnung zu tragen.

Wichtig scheinen mir schon im Vorfeld eine klare und verständliche Aufklärung der Betroffenen über ihre Möglichkeiten: Ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels, ei­ner Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung möglich? Was bedeutet die letztinstanzliche Ablehnung durch die Gerichte? Hat ein Härtefallantrag Aussicht auf Erfolg? Sollten die Betroffenen freiwillig ausreisen? Dies verlangt geradezu nach einer fundierten, nachvollziehbaren und verständlichen Beratung seitens der Ausländerbehörden. Auch daran wird, auch im Freistaat, weiter zu arbeiten sein.