Über die Beudeutung von Recht und Gerechtigkeit in der Opferhilfe des Weissen Ring e.V.

Jeden Tag melden sich Menschen beim WEISSEN RING und berichten über Gewalt, die ihnen zu­gestoßen ist. Dabei hören unsere Opferbetreuer oft verstörende Details, teilweise Unglaubliches: von Erwachsenen, die sich in schlimmster Art und Weise an Kindern und Jugendlichen vergreifen, von roher Gewalt in Partnerschaften, die kaum zu überbieten ist. Auch die alltäglichen Geschichten von Rempeleien und Demütigungen im nachbar­schaftlichen Umgang, im Straßenverkehr und zu­nehmend auch im virtuellen Raum finden bei ih­nen ein Ventil und können im geschützten Bereich der Beratung ausgesprochen und verarbeitet wer­den. Manche dieser Menschen, die den Weg in die Opferberatung finden,sind wütend, frustriert oder verbittert, andere leben eher in einem Zustand der Hilflosigkeit, der Verwirrung oder der Verein­samung. Manche haben große Mühe, über das Er­lebte zu berichten. Manche schämen sich, fragen sich, welche Schuld sie selbst tragen und drohen dabei in die innere Emigration abzudriften. Jedes Opfer reagiert anders auf ihm zugefügtes Unrecht. Für die ehrenamtlichen Opferhelfer des WElSSEN RINGS stellen sich damit große Herausforderungen, die sie nicht selten mit professioneller Hilfe etwa von Therapeuten, Rechtsanwälten oder an­deren Spezialisten angehen. Menschenkenntnis, Sensibilität, Zeit und viel persönliche Zuwendung wenden sie auf, um die Betroffenen wieder »auf die Spur« zu bringen. Die Unterstützung von The­rapeuten ist dabei nicht selten notwendig und oft hilfreich. 

Die Opfer wünschen sich Gerechtigkeit. Aber die Skepsis auch und gerade der Gewaltopfer ge­genüber der Arbeit von Strafverfolgungsbehör­den und der Justiz ist groß. Die Strafen für Täter werden oft als zu milde empfunden, das Schmer­zensgeld oder die Leistungen nach dem Opfer­entschädigungsgesetz als zu gering. Die daraus erwachsende Verzweiflung oder auch Verbitte­rung hat der Volksmund in Sprichwörter zusam­mengefasst: »Vor Gericht braucht man drei Säcke: einen mit Papier, einen mit Geld und einen mit Geduld«, oder »Vor Gericht und auf See sind wir allein in Gottes Hand.« In der Tat sind die Dauer der sich in die Länge ziehenden Verfahren und die Masse der ausgetauschten Informationen, der oft unverständlich formulierten Schriftsätze für die Betroffenen kaum auszuhalten und stellen eine zusätzliche Belastung für sie dar. Dazu legt die erste Redewendung nahe, dass Menschen ohne finanzielle Ressourcen in dieser Welt kein Recht bekommen. Von den Mitarbeitern des WEISSEN RINGS wird daher gelegentlich erwartet, dass sie Einfluss auf Staatsanwaltschaften und Gerichte nehmen. Das wollen und können sie selbstver­ständlich nicht. Den Betroffenen wird allerdings klar signalisiert, dass der Verein Geschädigte mit geringem Einkommen finanziell unterstützen kann. Insbesondere für anwaltliche Erstberatun­gen und Rechtshilfen setzt er jährlich große Sum­men ein. Trotzdem: Den Unterschied zwischen dem geschriebenen Recht und der Gerechtigkeit müssen unsere Mitarbeiter immer wieder verdeut­lichen. Und mit der irdischen Gerechtigkeit ist es für viele Opfer nicht weit her.

Oft fängt mit dieser Erkenntnis die eigentliche Arbeit unserer Opferhelfer aber erst an: Die Aner­kennung unserer Gesprächspartner als Opfer ei­ner Straftat ist ein erster Schritt, das Zuhören, die Zuwendung, die Zeit, all das legt den Grundstein dafür, dass das Erlebte im Nachgang verarbeitet werden kann. Die Wünsche der Opfer sind un­terschiedlich: Manchen plagen Rachegedanken, manchen geht es um finanziellen Ausgleich, man­che erstreben schlicht Genugtuung – wenn ein Gericht öffentlich feststellt: Das ist der Täter oder die Täterin, er trägt Verantwortung, hat Schuld auf sich geladen, und nicht das Opfer, wird damit sowohl für die Betroffenen als auch für die Allge­meinheit ein wichtiges Signal gesetzt. 

Es gibt verschiedene Wege, auf der Grundlage der erfahrenen Verletzungen mit den weiteren Wün­schen des Opfers umzugehen. Manche verlangen geradezu die direkte Begegnung, die verbale Aus­einandersetzung mit dem Täter, manche scheuen sich vor einem zusammentreffen im Gerichtssaal oder andernorts, haben Angst vor einer Retrau­matisierung. Meist aber hat das Zusammenspiel von Entschuldigung und Vergebung heilende Wir­kung. Auch die Prozessordnungen stellen dafür ein Instrument zur Verfügung, den sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich. 

Nicht selten bedarf es einer radikalen Verände­rung im Leben der Betroffenen, um den Schritt zurück in die Realität dieser Welt zu finden. Den Ort zu verlassen, mit dem das Verbrechen in Ver­bindung gebracht wird, entlastet das Opfer: Hin­aus aus der Wohnung, der Stadt oder dem Umfeld und hinein in ein neu zu gestaltendes Leben. Auch hierbei hilft der WEISSE RING, bei den Vorüberle­gungen, der Logistik und notfalls auch finanziell. Ob es das Opfer aber letztlich schafft, mit dem ihm angetanen Unrecht zu leben, hängt bei aller Unterstützung letztlich entscheidend von seiner eigenen Einstellung ab – Hilfestellung dabei, den Weg dorthin zu finden, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe der Opferhilfe.

„Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Dem Hunger nach Rache, nach irdischer Genugtuung setzen die Ehrenamtlichen des WEISSEN RINGS die Zuversicht aus Matthäus 5,6 entgegen, weltan­schaulich neutral, ohne Sendungsbewusstsein oder missionarische Hintergedanken. Sie verste­hen sich als Mut-Macher im Diesseits, als Kümme­rer, die Opfer von Kriminalität begleiten und sie nicht sich selbst überlassen. 

GEERT MACKEN ROTH 

MdL und Justizminister a.D., ist seit 2010 Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen